Sind Öffentliche Bibliotheken Orte der Meinungsfreiheit?

Die Entscheidung der Stadtbücherei Münster zwei ihrer 350.000 Medien mit einem „Einordungshinweis“ zu versehen, hat bundesweit[1] für negative Presse (neudeutsch „Shitstorm“) gesorgt. Das Image Öffentlicher Bibliotheken als „Orte der Demokratieförderung und Meinungsfreiheit“ hat dadurch gelitten.

Um welche Medien handelt es sich?

Zum einem handelt es sich um den Titel „2024 – das andere Jahrbuch“. Dieser seit 2008 jährlich erscheinende Bestseller ist aktuell auch für die Jahre 2023 und 2025 im Bestand der Stadtbücherei[2]. Anscheinend haben es diese beiden Titel aber durch die Einordnungshinweiskontrolle „geschafft“. Dabei ist hinlänglich bekannt, dass es sich hierbei um das „Hausbuch der Verschwörungstheoretiker[3]“ handelt, wie Denis Scheck es einmal so schön formuliert hat.

Auch beim zweiten Titel „Putin – Herr des Geschehens?“ ist unklar, was genau diesen gegenüber den 349.999 anderen Titel „qualifiziert“ hat.

Damit steht die Frage im Raum: „Warum und nach welchen Kriterien wurden gerade diese zwei Bücher aus 350.000 Medien ausgewählt?“. Beide Titel sind nicht verboten, enthalten aber nach Einschätzung der Bibliothek (oder einzelner Kunden?) an undefinierten Stellen Ansichten, die „unter Umständen nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar“ sind. Was soll diese Formulierung? Kann die Bibliothek behaupten den Inhalt aller 350.000 Medien zu kennen? Welche Rolle darf der Inhalt eines nicht verbotenen Buches überhaupt spielen?

Die gesamte Formulierung des „Einordnungshinweises“ ist höchst problematisch:

„Dies ist ein Werk mit umstrittenem Inhalt. Der Inhalt dieses Werks ist unter Umständen nicht mit den Grundsätzen einer demokratischen Gesellschaft vereinbar. Dieses Exemplar wird aufgrund der Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit zur Verfügung gestellt. Stadtbücherei Münster“.

Durch das Einbringen einer moralischen („umstrittener Inhalt“) und rechtlichen Ebene („Grundsätze einer demokratischen Geselllschaft“) ohne jeden Nachweis, maßt man sich einen Eingriff in die persönliche Meinungsbildung an. Die ganze Formulierung klingt nicht überzeugend, sondern wirkt entschuldigend.

Man hätte auch schreiben können:

„Wir bieten dieses Buch an, da in Deutschland die Zensur-, Meinungs- und Informationsfreiheit gilt.“

Auch eine solche Formulierung in einzelnen Büchern wäre nicht besonders sinnvoll. Sofern man aber das Bedürfnis verspürt, diese Freiheiten extra betonen zu müssen, wäre es zumindest eine Aussage, die gegenüber Kunden geäußert werden kann, die sich über Titel beschweren.

Die Leiterin der Bibliothek, Claudia Gladrow, bezeichnet das nachträgliche Anbringen der Hinweise als Teil des „Bildungsauftrags“ der Stadtbücherei. Begründet wird der Schritt damit, dass aus der Kundschaft Bitten kamen, die Bücher aus dem Bestand zu nehmen, weil man mit diesen „nicht einverstanden“ sei.[4]

Als Bibliothekar fragt man sich: Sind diese Titel bewusst durch Lektoren beschafft oder automatisiert durch Standing Order geliefert worden? Wenn diese Bücher von Mitarbeitenden beschafft wurden (zumindest aber eingearbeitet), muss man sich fragen, warum die Leitung sich nicht hinter ihr Personal stellt? Auch allgemein fragt man sich, warum solche Fragen nicht in einem Bestandskonzept geregelt sind, auf das man verweisen kann. Wie viel Wert legt die Bibliothek allgemein auf ihre Bestandshoheit? Reichen Beschwerden von zwei oder drei Personen, um Bücher „deren Inhalt einem nicht gefällt“ „einordnen“ zu lassen?

Die Bibliothekleitungen in Neuss[5] („2024 – das andere Jahrbuch“ ist dort, wie auch andere Titel aus dem Kopp-Verlag (bis auf eine Ausnahme) nicht im Bestand) und Düsseldorf[6] („2024 – das andere Jahrbuch“ ist dort 12x im Bestand; in beiden Bibliotheken ist das Buch über Putin im Bestand) positionieren sich verständlicherweise ganz klar gegen eine Einordnung, während Heike Pflugner, Vorsitzende beim Verband „Bibliotheken NRW“ zu beschwichtigen versucht und die Kritik für einen „Sturm im Wasserglas“ hält. Genau das ist es allerdings nicht, wie auch die bundesweite Berichterstattung zeigt. Der Vorgang hat dem Ansehen von Öffentlichen Bibliotheken deutlich geschadet und ihnen den Stempel einer „Zensuranstalt“ verpasst.

Öffentliche Bibliotheken sollten ihre politische Neutralität als hohes Gut ansehen. Sie können sich anhand ihres Bestandskonzeptes dazu entschließen ein bestimmtes Medium zu kaufen oder auch nicht zu kaufen. In ersterem Fall bedarf es keines „Einordnungshinweises“. Dies gilt auch, wenn eine Debatte durch den Inhalt der Bücher möglicherweise schwieriger wird und deren Inhalt nicht allen Kunden gleichermaßen gefällt.   


[1] Vgl. nur: https://www.merkur.de/leben/buchtipps/zensur-oder-kategorisierung-stadtbibliothek-muenster-versieht-buecher-mit-warnhinweisen-93516351.html, https://www.t-online.de/nachrichten/panorama/gesellschaft/id_100573194/stadtbuecherei-muenster-hinweise-auf-buechern-zensur-.html, https://rp-online.de/nrw/panorama/muenster-stadtbibliothek-muenster-beklebt-buecher-mit-hinweisen_aid-122914147, https://www.wn.de/muenster/stadtbuecherei-einordnungshinweise-sorgen-fuer-wueste-beschimpfungen-3223749?pid=true, https://www.rtl.de/cms/muenster-warnhinweise-in-stadtbuecherei-sorgen-fuer-diskussionen-5095758.html, usw.

[2] https://open.stadt-muenster.de/Permalink.aspx?search=das+andere+Jahrbuch

[3] https://web.archive.org/web/20200506222358/https://www.daserste.de/information/wissen-kultur/druckfrisch/top-ten/top-ten-bestsellerliste-sachbuch-100.html

[4] https://www.rtl.de/cms/muenster-warnhinweise-in-stadtbuecherei-sorgen-fuer-diskussionen-5095758.html

[5] https://rp-online.de/nrw/staedte/neuss/neuss-warnhinweise-fuer-umstrittene-buecher-so-reagiert-die-stadtbibliothek_aid-123019947

[6] https://rp-online.de/nrw/staedte/duesseldorf/duesseldorf-kommen-einordnungshinweise-in-umstrittenen-buechern_aid-122915813

Grafik: DALL-E 3 (Promt: „Eine gebeugt stehende Person mit einem Rückgrat aus Büchern.“) vom 24.01.2025

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